Erasmus Schöfer - Sonnenflucht
Geschichte des Widerstands und Fiktion
Erasmus Schöfers dritter Roman seiner Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“:
„Sonnenflucht"
Dittrich Verlag, September 2005
Sonnenflucht
Nach „Ein Frühling irrer Hoffnung“ und „Zwielicht“ erklimmt Erasmus Schöfer mit dem nun erscheinenden Band „Sonnenflucht“ ein weiteres Stück des Bergs, den sein vierbändig konzipierter Roman-Zyklus „Die Kinder des Sisyfos“ darstellt. Denn nichts Geringeres hat sich der Autor vorgenommen, als den zwei Jahrzehnten zwischen 1968 und 1989 deutscher Geschichte aus linker Perspektive literarisch gerecht zu werden und sich damit in der „literarischen Meisterdisziplin“ des Romans der Neuzeit zu bewähren.
In „Sonnenflucht“ begegnet der Leser wieder Schöfers Hauptfigur Viktor Bliss und dessen Freund Manfred Anklam, diesmal im Sommer des Jahres 1980 in Griechenland. Dahin, genauer auf die Ägäisinsel Leros, hat sich der aus politischen Gründen arbeitslose Geschichtslehrer ein halbes Jahr vorher zurückgezogen, nachdem er seine beruflichen Hoffnungen und seine Ehe mit der Kostümbildnerin Lena als gescheitert ansehen musste.
Der Metallarbeiter Anklam macht sich nun auf den Weg in den Süden, um seinen verletzten Freund Bliss aus seiner Emigration zu befreien. Gemeinsam brechen sie nach Athen auf und erleben die Wirklichkeit eines modernen Griechenland, das geprägt ist von den Kämpfen der Linken für eine Demokratisierung des Landes nach Bürgerkrieg und Obristen-Junta. Höhepunkt ist die – historisch verbürgte – Ermordung der griechischen Studentin Sotiria Vassilakopoulou vor einer Athener Chemiefabrik. Dieses Ereignis treibt Bliss aus seiner Verzweiflung und er nimmt gemeinsam mit Anklam Verbindung zur griechischen Studentenbewegung auf.
Durch ein Telefonat, in dem der Betriebsratsvorsitzende Anklam erfährt, dass er wegen seines Engagements für eine gegen seinen Betrieb wirkende Bürgerinitiative entlassen wurde, wird er hart in die Realität zurückgeholt. Er fliegt zurück nach Düsseldorf und lässt seinen Freund Bliss in Athen zurück. Wieder verlassen, besucht der die Studentin Katina, eine Freundin der ermordeten Sotiria. Aus einem erwartungsvollen Abend werden die beiden von den Genossen Katinas herausgerissen zur Bekämpfung der Waldbrände in und um Athen. Bliss versucht, bei der Evakuierung von Menschen aus einer Klinik zu helfen, mit für ihn selbst katastrophalen Folgen...
In seiner unverbrauchten Sprache und mit erfrischendem Wortwitz lässt Schöfer die Ereignisse und Erinnerungen an den Sommer 1980 dreistimmig zu Wort kommen, indem er die Kapitel abwechselnd aus der Sicht von Bliss, von Anklam und von Katina erzählt. Spannungsreich präsentiert sich dabei die Perspektive Katinas als Rückschau auf die vergangenen Wochen, die sie dem entstellten, im Krankenhaus isolierten Bliss auf Kassetten spricht, so dass der Leser mehr und mehr das nahende Unheil ahnt.
Dies ist nur ein Beispiel für Schöfers bewussten Einsatz vielfältiger stilistischer Mittel und Textarten: Feinsinnige Naturbeschreibungen, wirklichkeitsnahe Stadtbilder, reportageartige Ereignisschilderungen sowie Zitate aus Literatur und Zeitdokumenten wechseln sich ab. Und wie die ersten beiden Romane beginnt auch „Sonnenflucht“ mit einer überraschenden poetischen Variante des Sisyphos-Mythos, die „Sisyfos schläft“ überschrieben ist.
Wenn Bliss und Anklam durch das sommerliche Griechenland treiben, ist der Blick der beiden auf die kleinen Leute, die Arbeiter gerichtet. Es entstehen eindringliche gesellschaftliche Miniaturen und Porträts, z.B. als sie mit einem alten Studienfreund von Bliss und dem tatkräftigen sozialistischen Bürgermeister von Kessariani in einer Taverne bei Wein und Essen über die Zukunft des Jahrhunderts debattieren.
Stark sind besonders die lebendigen politisch-philosophischen Dialoge und inneren Monologe. Hier treffen private Lebensgeschichten mit objektiver Historie zusammen. So etwa, wenn Anklam vor einer Telefonzelle auf seinen Freund wartend an seine bevorstehende Betriebsversammlung in Düsseldorf denkt und nebenbei einen Abriss der deutschen Gewerkschaftsgeschichte aus seinem eigenen Erleben erinnert. Oder wenn Bliss Anklam beim Anblick antiker Ruinen griechische Historie seit den Befreiungskämpfen von 1821 erzählt und auf dem Syntagma-Platz zu berichten weiß, dass Günter Wallraff sich 1974 vor dem Athener Parlament an eine Laterne gekettet und Flugblätter verteilt hat, um in Deutschland die Öffentlichkeit gegen die griechische Diktatur zu erregen. Das schafft zum einen Authentizität und Realitätsnähe, zum andern wird klar, worum es Schöfer geht: Geschichte ist für ihn vor allem Geschichte des Widerstands und der widerstehenden Menschen.
Schöfers Darstellung der Menschen und Verhältnisse erscheint allerdings nirgends plakativ, weil er auch die Hintergründe der Vorgänge und Verhaltensweisen ausleuchtet. Seine Figuren reflektieren über das Scheitern ihrer Pläne. Allenfalls in der Liebe gibt es Augenblicke des Glücks. Aber obwohl auch diese Momente nicht von Dauer sind, verleiht der Blick auf die private Lust und Sehnsucht der Prosa Leichtigkeit und emotionalen Hintergrund.
Der Autor Erasmus Schöfer hat nicht aufgegeben. Dafür spricht sein groß angelegtes Epos als eine Tat des Widerstands gegen die Resignation.